Von 1844 bis 1918

DIE EVANGELISCHE KIRCHENGEMEINDE VON 1844 BIS 1918

VON HANS-BODO THIEME

 

 

Vorgeschichte und Gründung der Gemeinde1

 

Im kurkölnischen Sauerland und damit auch in der Stadt Olpe konnte die Reformation keinen Fuß fassen, und auch in nachreformatorischer Zeit verhinderte die Bestimmung des Augsburger Religionsfriedens von 1555, daß nämlich der Landesherr über die Konfession der Untertanen bestimme, die Ansiedlung von Protestanten im katholischen Kurköln oder gar die Bildung von evangelischen Kirchengemeinden. Erst die Auflösung des geistlichen Kurfürstentums Köln durch den Reichsdeputationshauptschluß und die Übergabe des Herzogtums Westfalen an protestantische Obrigkeiten, nämlich 1802 an den Landgrafen von Hessen-Darmstadt und 1816 an den König von Preußen, schufen die rechtliche Voraussetzung für den Zuzug Evangelischer in den Olper Raum. Die nun einsetzende Migration war außerordentlich gering, und so betrug 1818 die Zahl der Protestanten im Stadtgebiet Olpes bei 1616 Einwohnern nur 20 Personen. Im Jahre 1840 waren von 1871 Einwohnern der Stadt lediglich 57 evangelischen Bekenntnisses. Zählt man zu diesen noch diejenigen aus dem Südteil des Kreises Olpe hinzu, die sich allesamt zur Kreisstadt orientierten, so kommt man für das Jahr 1840 auf 135 Evangelische. Die geistliche Betreuung dieser protestantischen Christen erfolgte, wenn überhaupt, von den angrenzenden protestantischen Kirchengemeinden Krombach, Valbert und Wiedenest aus und war wegen der beträchtlichen Entfernungen mit großen Unbequemlichkeiten verbunden. Diese letztlich unhaltbaren Zustände ließen unter den Olper Evangelischen den Wunsch nach Konstituierung einer selbständigen Gemeinde und Anstellung eines eigenen Geistlichen entstehen.

     Diejenigen unter den Olper Protestanten, die mit viel Geschick und Umsicht und unter Zuhilfenahme mancher Beziehungen darangingen, diese Pläne zu verwirklichen, waren der Druckereibesitzer und Zeitungsverleger Theodor Mietens (1804-1885), der aus Siegen stammende Gewerke Heinrich Kreutz (1808-1879) und der seit 1825 in Olpe ansässige Gerichtsrat Heinrich Lyncker (1798-1876).

     Mietens wandte sich Ende 1841 an den ihm und auch Lyncker bekannten und bei der Kirchenbehörde in Münster und der Regierung zu Arnsberg über exzellente Beziehungen verfügenden Arnsberger Pfarrer Gustav Bertelsmann und fragte bei diesem nach, wie eine Gemeindegründung in Olpe wohl zu bewerkstelligen sei.
 

Bertelsmann empfahl in einem Schreiben an Mietens die Zuordnung einer Olper Gemeinde zum Kirchenkreis Siegen: “Siegen und das ganze Land der Bergwerke [muß] Ihnen vornehmlich ein Tyros werden, welches Geld und Arbeiter zum Tempelbau zuführt.” Damit erinnerte Bertelsmann daran, daß der Siegener Kirchenkreis, wohl aufgrund seiner calvinistischen Prägung, vermögend sei und deshalb für diesen auch die Verpflichtung bestünde, einer naturgemäß armen Olper Gemeinde kräftig unter die Arme zu greifen.

     Im März 1842 bat Lyncker beim Siegener Superintendenten Bender um die förmliche Konstituierung einer Gemeinde in Olpe und vergaß nicht, darauf aufmerksam zu machen, daß sich “vorerst eine Anzahl von 54 evangelischen Christen, größtenteils Familienväter, ergeben [hat], die zur Besoldung des Pfarrers resp. Lehrers” beitragen wollen. Bender berief daraufhin in Absprache mit der Arnsberger Regierung eine konstituierende Gemeindeversammlung auf den 2. Juni 1842 ein. Bei dieser Zusammenkunft im Eisenbachschen Tanzsaal in der Frankfurter Straße 9 wurde ein provisorischer Kirchenvorstand gewählt, bestehend aus Mietens, Kreutz und dem Salzfaktor Sylvius. Nach diesem ersten wichtigen Schritt im Hinblick auf die Konstituierung einer eigenständigen Gemeinde ging man in Olpe daran, bei den zuständigen geistlichen und weltlichen Behörden die Installierung eines selbständigen Gemeindesystems und die Anstellung eines eigenen Geistlichen zu betreiben. Der mittlerweile angemietete Eisenbachsche Saal wurde zu einer Gottesdienststätte umgestaltet und am 28. Mai 1843 darin der erste evangelische Gottesdienst in Olpe gefeiert. Mietens notierte dazu: “Unser Betsaal war bei der ersten gottesdienstlichen Feier gedrängt voll, und am h(eiligen) Abendmahl nahmen etwa 60 Personen teil.”

     Auf das Ansinnen der Oberbehörden, daß die Olper eigentlich auf einen eigenen Pfarrer verzichten und auswärtige Geistliche die sonntäglichen Gottesdienste halten könnten, entgegnete das Presbyterium, daß es sich nicht allein “um den sonntäglichen Gottesdienst [handele], sondern auch hauptsächlich um den Unterricht der Jugend, die Ausspendung der Sakramente an Schwache und Kranke, überhaupt um tägliche seelsorgerische Pflege der Gemeinde, welches alles nicht fruchtbar auszuüben ist, wenn der Pfarrer nicht beständig in unserer Mitte lebt.” Der Grund, der die Behörden zögern ließ, Olpe als eigene Pfarrgemeinde zu konstituieren, war finanzieller Natur. Die Olper Protestanten vermochten durch ihr Kirchensteueraufkommen weder einen Pfarrer noch einen Lehrer zu besolden noch die sächliche Unterhaltung eines Pfarrsystems zu gewährleisten. Sie waren demnach auf erhebliche kirchliche und staatliche Zuschüsse angewiesen, die schließlich aufgrund mehrerer Bittgesuche in Höhe von 250 Talern (bis 1845) und 350 Talern (bis 1855) - bei einem eigenen Pfarrstellenbeitrag von 50 Talern - gewährt wurden und einem Geistlichen eine bescheidene Existenz ermöglichen konnten.

 

     Die Arnsberger Regierung besaß, wie damals üblich, aufgrund des landesherrlichen
 

Kirchenregimentes das Recht der Pfarrstellenbesetzung, ließ das Presbyterium indes wissen, daß man staatlicherseits geneigt sei, diesbezüglichen Wünschen der Gemeinde entgegenzukommen. Der Kirchenvorstand lud daraufhin in der Zeit vom 28. Mai bis zum 13. August 1843 acht Pfarramtskandidaten zu Probepredigten ein und ließ in einer Gemeindeversammlung am 20. August von den wahlberechtigten Gemeindegliedern in geheimer Abstimmung eine Dreierauswahl treffen, die dann über den Superintendenten der Regierung in Arnsberg zur Kenntnis gebracht wurde. Da die Wünsche der Olper Gemeinde mit denen des Superintendenten koinzidierten, Bender favorisierte den Krombacher Kandidaten Johann Georg Manskopf, waren die personellen Voraussetzungen für die Installierung eines evangelischen Pfarrers in Olpe geklärt. Es dauerte jedoch noch acht Monate, bis sich die in die Zuschußfrage involvierten Berliner Ministerien definitiv auf die finanzielle Unterstützung geeinigt hatten, und erst damit war dann der Weg für die Einführung des Pfarrers in Olpe geebnet. Am 27. Oktober wurde Johann Georg Manskopf in einem feierlichen Gottesdienst im Betsaal von Superintendent Bender in sein Amt als erster Pfarrer der evangelischen Gemeinde eingeführt.

     Die Kirchengemeinde selbst hat seither den 27. Oktober 1844 als ihr Gründungsdatum verstanden und die Auffassung vertreten, diesen Tag “als den eigentlichen Stiftungstag der Gemeinde annehmen zu müssen.”

 

Größe und Struktur der Gemeinde2

 

     Die evangelische Kirchengemeinde umfaßte ab 1846 die Protestanten in den Städten, Gemeinden und Ämtern Olpe, Drolshagen, Wenden und die im Amt Bilstein lebenden Evangelischen der Kirchspiele Kirchveischede und Rahrbach. 1861 wurden die evangelischen Bewohner der Gemeinde Kirchveischede und 1895 diejenigen von Rahrbach abgepfarrt. Wie gering die Zahl der Protestanten im Vergleich zur Einwohnerzahl, auch in der Kreisstadt Olpe, über viele Jahrzehnte hinweg war, mögen die folgenden statistischen Angaben belegen:

 

Jahr                Stadt Olpe                                                        Pfarrbezirk

                         Einwohner     evangelisch   in %                Einwohner     evangelisch

1843                1949                  80                   4,1             12629              177

1858                2086                159                  7,6             13689              409

1871                2177                124                  5,7             12077              225

1890                3089                149                  4,8             13361              198

1905                4478                259                  5,8             15996              379

 

     Diese Statistik läßt indes auch erkennen, daß über die Jahre hinweg immer zwischen 40% und 75% der Protestanten in der Stadt Olpe selbst beheimatet waren, somit der außerhalb Olpes lebende Teil außerordentlich vereinzelt und auch vereinsamt in den anderen Kommunen, kleinen Dörfern oder auf Gehöften lebte.

     Flächenmäßig umfaßte die Gemeinde bis 1861 ein Gebiet von 264 km² und bis 1954 immerhin noch von 216 km². Sie gehört damit, auch gegenwärtig noch, zu den an Fläche größten Gemeinden der westfälischen Kirche.

     Eine Untersuchung der Berufs- und Sozialstruktur der Gemeinde von ihrer Gründung bis weit in dieses Jahrhundert hinein kommt zu dem Resultat, daß Protestanten, gerade auch die in der Stadt Olpe, kaum im primären Bereich, d.h. in der Land- und Forstwirtschaft, angetroffen werden. Dies hat seinen Grund darin, daß dieser Bereich seit jeher der angestammten Bevölkerung zum Nahrungserwerb diente. Im sekundären Bereich, also dem des warenproduzierenden Gewerbes, das sich mit der Industrialisierung immer mehr ausweitete, hat der evangelische Anteil überproportional zugenommen. Der Zuzug evangelischer Facharbeiter aus dem Siegerland und aus Hessen wird zu dieser Steigerung beigetragen haben. Die bemerkenswerteste Zunahme des protestantischen Bevölkerungsanteils ist im tertiären Bereich, also dem Dienstleistungssektor, zu verzeichnen und hier vor allem in den Bereichen “Handel und Verkehr” und “Öffentliche Dienste”. Die Begründung eines leistungsfähigen Post- und Eisenbahnsystems führte zu einem relativ hohen Bedarf an qualifiziertem Personal, das von auswärts, also überwiegend aus protestantischen Gegenden, in die Kreisstadt verpflichtet wurde. Auch viele nach Olpe versetzte Staatsbeamte aus den Bereichen von Justiz, Polizei, Forst, Fiskus und des Vermessungswesens waren evangelischer Konfession, zumal es preußischer Personalpolitik entsprach, Protestanten in katholische und Katholiken in evangelische Gebiete zu versetzen, um auf diese Weise einer zu schnellen und zu intensiven Integration der Staatsdiener in die Strukturen und Systeme vor Ort vorzubeugen. Allerdings mußte damit auch in Kauf genommen werden, daß diese Staatsbediensteten nach Ablauf einiger Jahre wieder aus Olpe versetzt wurden und somit eine der Kirchengemeinde wenig förderliche hohe Fluktuation entstand.

     Was die Steuer- und Einkommenssituaton der evangelischen Einwohner Olpes anlangt, so unterschied diese sich nicht grundsätzlich von denen der übrigen Einwohnerschaft. Eine Statistik über das Klassensteueraufkommen verschiedener Jahre zeigt folgendes Bild:

 

Steuer pro anno        Anzahl der evangelischen Steuer-                    Steuerzahler insgesamt

                                     zahler in der Stadt Olpe                                     in Olpe

         (Taler)               1843          1845          1851         1862                1871

               ½               -                  -                        1                -                      487

               1                       4                 7               12                7                       27

bis          2                     10              10                9                4                       91

bis          3                       2                 2                 3                2                       48

bis          4                       2                 3                 3                4                       32

bis          6                       -                  1                 3                3                       45

bis          8                       1                 1                 1                1                       22

bis 10                      -                  -                  -                       1                       17

über     10                      -                  -                  1                8                       45

 

     Diese Statistik zeigt signifikant, daß sich in der evangelischen Gemeinde, insonderheit, was deren Glieder in der Stadt Olpe anlangt, hinsichtlich des Steueraufkommens und damit des Einkommens von 1843 bis 1862 (und auch darüber hinaus) eine Art “bürgerliche Schicht” herausgebildet und ausdifferenziert hat. Aus diesen Angaben und aufgrund der Tatsache, daß der evangelische Bevölkerungsteil ein etwas höheres Steueraufkommen als der übrige zu verzeichnen hat, darf indes nicht geschlossen werden, daß die Protestanten einen höheren Lebensstandard als die Katholiken aufzuweisen gehabt hätten, denn im Regelfall konnten die Evangelischen keinerlei Land- und Forstbesitz ihr eigen nennen und daher ihre Lebensbedürfnisse nicht durch den Anbau von Garten- und Feldfrüchten oder durch Viehhaltung in gleichem Maße aufbessern wie die Einheimischen. Im Gegensatz zu diesen verfügten viele protestantische Familien dagegen über bescheidene, aber sichere Einkünfte aus der Staatskasse: Des Königs Rock war zwar kurz, aber er wärmte dennoch.

     Einer besonderen Erwähnung bedarf ein Phänomen, das für die Gemeinde seit ihrer Gründung charakteristisch war und sie bis in die Gegenwart kennzeichnet: eine ungemein hohe Fluktuation infolge permanenter und für eine kleine Kirchengemeinde sehr großer Wanderungsbewegungen. Als Beispiel dafür sei erwähnt, daß von den in einer Steuerliste aus dem Jahre 1843 (bezogen auf die Gesamtgemeinde) aufgeführten 57 Haushaltungsvorständen respektive selbständigen Gemeindegliedern bereits zwei Jahre später 21 nicht mehr in der Steuerliste registriert wurden. Dabei muß davon ausgegangen werden, daß die überwiegende Zahl verzogen sein dürfte. Fragt man nach den Gründen für solch eine exorbitante Fluktuation, so wird ein Grund in der schon früher skizzierten Personalpolitik der Staatsbehörden zu suchen sein, ein zweiter in einer mäßigen Industrialisierung des Olper Landes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber auch in den Umstrukturierungen und Zusammenbrüchen von Industrie und Bergbau ab etwa 1860. Als weiterer Grund wird zu bedenken sein, daß mancher Protestant sich in einem vom traditionellen Katholizismus geprägten Gebiet nicht hat zurechtfinden können und deshalb aus Olpe verzog, zumal die konfessionellen Gegensätze gerade im vorigen Jahrhundert von erheblicher Schärfe gewesen waren.

 

 
 

 
Die Pfarrer der Gemeinde3

 

     Für eine evangelische Diasporagemeinde in der Größe, mit der Struktur und in der Lage wie die in Olpe war es von eminenter Bedeutung, Geistliche zu besitzen, die es vermochten, durch Persönlichkeit, Bildung und theologisches Profil eine Gemeinde zusammenzuhalten, ihr eine gewisse Prägung zu verleihen und sie gegenüber Staat und auch katholischer Umgebung deutlich sichtbar in Erscheinung treten zu lassen.

     Die Pfarrer, die ab 1844 in der Olper Gemeinde tätig waren, haben allesamt, jeder auf seine Weise und mit je eigenen Schwerpunkten, die theologischen, philosophischen und politischen Grundpositionen ihrer Zeit widergespiegelt und in Lehre und Leben thematisiert.

 

     Der erste Geistliche, Johann Georg Manskopf, war in der Gemeinde von 1844 bis 1853 Pfarrer. Im Jahre 1815 in Siegen als Sohn eines Buchbinders geboren, besuchte er zuerst das Pädagogium seiner Heimatstadt und dann bis zum Abitur 1835 das Gymnasium zu Wetzlar. An der Universität Halle studierte er zwei Jahre, in Bonn ein Jahr Theologie. In Halle machte Manskopf Bekanntschaft mit der Gedankenwelt des seinerzeit hochberühmten Professors August Tholuck. Tholuck war ein Vertreter der sogenannten “Erweckungsbewegung”, die Bußpredigt, pietistische Herzensfrömmigkeit und streng biblisch-supranaturalistische Gläubigkeit miteinander verknüpfte. Diese theologische Konzeption beeindruckte Manskopf (und auch seinen Nachfolger Damköhler) außerordentlich. Er war ihr zeit seines Lebens verbunden und hat diese Positionen auch in seiner Olper Zeit vertreten. 1853 ging Manskopf als Pfarrer nach Oberfischbach, 1859 nach Siegen. Zwölf Jahre später ließ er sich emeritieren, verzog nach Wetzlar und starb dort 1887.

     Von seiner Persönlichkeit her war Manskopf irenischen Wesens. Er verstand es sehr gut, in der recht heterogenen Gemeinde stabilisierend und integrierend zu wirken. Händel jeglicher Art, auch konfessionelle, waren ihm zuwider. Wenn es indes darum ging, Rechtspositionen zu behaupten, so war Manskopf durchaus in der Lage, sich Gehör zu verschaffen und durchzusetzen. Mit den nachfolgenden zutreffenden Worten gedachte 1887 die Siegener Kreissynode ihres gerade verstorbenen Emeritus:

     “Bewahren wir dem lieben Bruder, welcher sich durch sein mildes, freundliches und doch ernstes Wesen die Achtung und Liebe seiner Mitbrüder erworben hatte, ein treues Angedenken und wünschen wir ihm ... die Ruhe, die da vorhanden ist dem Volke Gottes.”

     Allerdings ist auch von den Grenzen zu sprechen, die bei Manskopf anzutreffen sind: Er ist immer Kind seiner Zeit geblieben, der Zeit der Romantik, des Pietismus, des Idealismus, letztlich also der Zeit vor 1848. Die umstürzenden Bewegungen in Theologie, Philosophie und Politik hat er weder vernommen oder noch erspürt. Der heraufkommende Nationalismus ist für ihn kein Thema gewesen, auch nicht die “soziale Frage”, geschweige denn die Ergebnisse historisch-kritischer Forschungen in der Theologie oder die “zersetzenden” Gedanken Heinrich Heines oder gar Friedrich Nietzsches.

 

     Zweiter Pfarrer der Gemeinde war von 1853 bis 1855 Johann Heinrich August Damköhler. Geboren 1820 in Tanne/Ostharz als Sohn eines recht rationalistisch eingestellten Pfarrers, besuchte er von 1830 bis 1840 das Gymnasium zu Blankenburg und von 1840 bis 1843 die Hallenser Universität. Nach seinen Examina und einer Tätigkeit als Hauslehrer wurde er 1848 Hilfsprediger in Elberfeld. Möglicherweise wird dort Heinrich Kreutz auf ihn aufmerksam geworden sein und aufgrund seiner vielfältigen Beziehungen dafür gesorgt haben, daß Damköhler von der Kirchenbehörde in die Olper Pfarrstelle eingewiesen wurde. Nach bereits zwei Jahren verließ Damköhler Olpe jedoch wieder und trat als Reiseprediger in den Dienst einer evangelischen Einrichtung. 1862 wurde er Pfarrer in Petershagen, doch bereits 1864 verstarb er.

     In theologischer Hinsicht war auch er, bei lutherischer Grundhaltung, dem Hallenser Pietismus eng verbunden. Von dort hatte er seine maßgeblichen Impulse empfangen und zeit seines Lebens dezidiert pietistische Positionen eingenommen. “Bekehrung” und “Erweckung” waren für ihn die wichtigsten religiösen Topoi. Er besaß eine gute theologische Bildung, wußte überzeugend zu predigen, verfügte aber nicht in gleicher Weise wie Manskopf über die Gabe der Integration und über die Fähigkeit, von einem theologischen und persönlichen Konsens her in einer relativ heterogenen und fluktuierenden Diasporagemeinde diese konstruktiv aufzubauen und zu leiten. Seine radikalpietistischen Auffassungen wußte Damköhler kongenial mit einem zutiefst royalistischen Konservativismus zu verbinden, der beispielsweise in einer Predigt zum Geburtstag des Königs in den Worten gipfelte: “Ein rechter braver Preuße: er lebt in Gott für König und Vaterland, er kämpft mit Gott für König und Vaterland!” Damköhler besaß nicht die Fähigkeit, die sozialen und politischen Umbrüche seiner Zeit angemessen einzuschätzen und seine eigene Zeit-, Situations- und Geschichtsbedingtheit zu hinterfragen. Doch darf nicht unerwähnt bleiben, daß er ein Geistlicher von großer Einsatzbereitschaft, hoher Intellektualität und tiefer pietistischer Frömmigkeit war.

 

     Der Nachfolger Damköhlers war von 1856 bis 1893 Heinrich Theodor Baltz. Ihn konnte sich die Gemeinde nicht auswählen; das Konsistorium in Münster bestimmte ihn zum neuen Pfarrer. Baltz hat einen interessanten Lebensweg aufzuweisen. 1812 in Bochum als Sohn eines Gerichtsschreibers geboren, bestand er 1830 das Abitur in Dortmund und studierte bis 1833 Theologie in Halle, danach bis 1834 in Bonn. In diesem Jahr wurde gegen ihn ein Verfahren wegen Mitgliedschaft in der vom patriotischen Geist der Befreiungskriege getragenen Hallenser Burschenschaft eingeleitet, das sich längere Zeit hinzog und 1836 mit seiner Verurteilung zu sechs Jahren Festungshaft und dauernder Amtsunfähigkeit endete. Auf dem Gnadenwege wurde diese nicht ehrenrührige Haft auf ein Jahr reduziert - Baltz verbrachte diese Zeit auf der Festung Wesel-, und auch die Verurteilung zur Amtsunfähigkeit wurde aufgehoben, so daß er 1839 und 1840 seine beiden theologischen Examina ablegen konnte. Nach Jahren der Hauslehrertätigkeit bekam er 1847 seine erste Anstellung als Pfarrverweser in der Diasporagemeinde Lüdinghausen. Erst 1856, immerhin schon 43jährig, erhielt er in Olpe seine erste ordentliche Pfarrstelle. Hier blieb er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1893. Zwei Jahre später ist er dann in Eschwege verstorben.

     Baltz steht insoweit in der Tradition der Olper Pfarrer, als er in Halle und Bonn studiert und dort Bekanntschaft mit der Erweckungstheologie gemacht hat, die ihn allerdings nicht in gleichem Maße wie Manskopf oder gar Damköhler geprägt hat. Intensiver als diese war er dagegen mit dem Gedankengut des Idealismus und der Romantik verknüpft, so daß gesagt werden kann, daß sich in seinem Lebenslauf die wichtigsten Zeitströmungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts signifikant vereinigten: Burschenschaft und Vormärz, eine vom Pietismus herkommende “positive” theologische Grundauffassung, Verwurzelung in idealistischem und romantischem Gedankengut. Baltz stellt geradezu idealtypisch den traditionellen, den im “romantischen Nationalismus” (Nipperdey) beheimateten Pfarrer dar, der mit den Gedanken einer neuen, einer industriellen Zeit nicht viel anzufangen wußte. Seine liberale Vergangenheit hat Baltz nie verleugnet, sie indes immer mit nationaler und auch königstreuer Gesinnung zu verknüpfen verstanden. Hinsichtlich seiner Persönlichkeitsstruktur ist festzuhalten, daß Baltz mitunter recht schwierig und starrsinnig sein konnte. Kreutz und er verstanden einander überhaupt nicht, und der Kardinalvorwurf, der wiederholt in offiziellen Berichten über Baltz geäußert wurde, lautete dahingehend, daß es dem Pfarrer an Energie in seinem Amt mangele. Der Wahrheit am nächsten wird vermutlich die Einschätzung kommen, daß sich, je älter Baltz wurde, um so mehr Amtsmüdigkeit und Lethargie zeigten, gepaart mit Unverständnis gegenüber einer neuen Zeit und Wehmut über eine verflossene Epoche des Edlen, Guten, Wahren und Schönen.

 

     Nach Baltz Emeritierung wurde die Pfarrstelle im “Kirchlichen Amtsblatt” ausgeschrieben und durch Gemeindewahl mit dem Hilfsprediger Albert Otten besetzt. Otten wurde 1865 als Sohn eines Landwirts am Niederrhein geboren, besuchte bis 1884 das Gymnasium Burgsteinfurt und bis 1887 die Universität Halle. Seine theologischen Examina legte er 1887 und 1889 ab. Danach wurde er im Siegerland Vikar und Hilfsgeistlicher, bis er am 30. Juli 1893 in sein Olper Amt eingeführt wurde. Was seine theologische Standortbestimmung anlangt, so kann gesagt werden, daß er seit seinen Studienzeiten die Positionen eines sittlich verstandenen Christentums (sogenannter “Ritschlianismus”) vertrat, das auf dogmatische Fixierungen wenig Wert legte. Wahrscheinlich hatte er diese Auffassungen von seinem Hallenser Lehrer, dem berühmten Lutherforscher Julius Köstlin, übernommen, zumal Halle längst nicht mehr einen Hort der Erweckungstheologie darstellte. Von seinem geistigen Zuschnitt repräsentierte Otten nicht den intellektuellen Pfarrertyp. Hochgeistige Sachverhalte scheinen ihm nicht gelegen zu haben. Dagegen ist er ein fleißiger, agiler Mensch und ein ausgesprochen guter Organisator gewesen. Ihm sind im Jahre 1898 der Kirchenbau und 1900 der Bau der Schule, des heutigen alten Gemeindehauses, zu verdanken. Dem Gemeindeleben verlieh er neue Impulse. Dabei ist ihm die Fähigkeit, sich auch auf die Belange einfacherer Gemeindekreise gut einstellen zu können, sehr zustatten gekommen.

     In politischer Hinsicht ist er, wie alle seine Amtsvorgänger, streng national und königstreu eingestellt gewesen.

     Hinsichtlich seiner Persönlichkeitsstruktur repräsentierte Otten einen sehr patriarchalischen und autoritären Typus, und in emotionaler Hinsicht war er von eher sprödem Habitus. Ein gewisses Maß an Selbstüberschätzung kann ihm nicht abgesprochen werden, denn wiederholt reflektierte er vergeblich auf renommierte Pfarrstellen.

     Im Jahre 1912 verließ Otten Olpe und ging nach Dornberg. Nach einer Notiz seines Nachfolgers, Pfarrer Paul Koch, “sah ihn [die Gemeinde] ungern scheiden. Ihre Liebe und Anhänglichkeit kam zum Ausdruck durch eine Abschiedsfeier, die sie ihm bereitete.” In Dornberg wirkte Otten bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1928. Danach verzog er nach Orsoy, wo er 1943 starb.

 

     Pfarrer Paul Koch (1875-1953) hatte die Olper Pfarrstelle von 1912 bis 1946 inne, und er hat durch sein Wesen, seine Theologie, die Art seiner Verkündigung und seine nationale und politische Einstellung die Gemeinde 34 Jahre geprägt und sie durch alle Kriegs-, Krisen- und Umbruchszeiten geleitet und begleitet. Pfarrer Koch hat genau definierte theologische und nationale Grundpositionen vertreten, und es muß, weil wir es bei Koch mit einer hochinteressanten Kontinuität von 1912 bis 1946 zu tun haben, der späteren Darstellung vorbehalten bleiben, diese “Widerspiegelungen des Nationalprotestantismus” in einer zu Ende gehenden Epoche ausführlicher zu beschreiben und zu deuten und Kochs und der Gemeinde nationalprotestantisches Selbstverständnis auf dem Hintergrund nationalsozialistischer Versuchungen zu sehen.

 

 

Das Leben der Kirchengemeinde4

 

Die evangelische Kirchengemeinde Olpe ist von unten her, auf dringlichen Wunsch der in Olpe wohnenden Protestanten entstanden. Diese verlangten nach einer geistlichen, geistigen und auch emotionalen Beheimatung, und so ist es nicht verwunderlich, daß der Zusammenhalt der Olper Evangelischen bei aller Fluktuation und aller Schichtenspezifik recht eng war. Man fühlte sich als große Familie. Gerade in der Anfangsgemeinde war aus diesen Gründen die Spenden- und Gebefreudigkeit erstaunlich hoch. So wurden von 1843 bis 1854 die jährlichen Kirchenbeiträge von 180 Talern freiwillig erbracht. Erst danach mußte die Gemeinde die Erhebung einer Kirchensteuer einführen, zu der die Gemeindeglieder nach Maßgabe ihres Einkommens veranlagt wurden: Die Hochstimmung der Gründungsphase war der Normalität gewichen. Trotzdem war die Partizipation der Gemeindeglieder am Leben von Kirche und Gemeinde bei aller Fluktuation recht bedeutend. Im Gegensatz zu anderen Gemeinden des Siegerlandes waren in Olpe sowohl Gottesdienstbesuch und Abendmahlsteilnahme als auch Kollektenaufkommen in prozentualer Hinsicht größer. Vergleichen wir beispielsweise die Abendmahlsbeteiligung in der Olper Gemeinde mit der im Kirchenkreis Siegen, so lassen sich in Relation zur Gesamtseelenzahl folgende prozentuale Angaben machen:

 

  1846 1861 1876 1890 1911
Kirchengemeinde Olpe 41,5% 39,8% 45,9% 32,8% 39,0%
Kirchenkreis Siegen 34,5% 39,4% 25,9% 21,0% 13,6%

 

                                                                    

     Die Gründe für diesen höheren Partizipationsgrad werden im sozialen Zusammenhalt, aber auch Druck unter den Olper Protestanten, im Auftreten des sogenannten “Diaspora-Effekts”, d.h. der Verstärkung eines konfessionsspezifischen Habitus’ in einer religiös andersgearteten Umgebung, in einem charakteristischen Mittelschichtverhalten und in einer gewissen “bürgerlichen” Religiosität zu suchen sein.

     Nach der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung von 1835 bildete die unterste Ebene des synodalen Kirchenaufbaus das Presbyterium einer Gemeinde, bestehend aus dem Pfarrer und mindestens vier weiteren Mitgliedern. Aufgabe dieses Gremiums war es, die Gemeinde sowohl in “geistlicher” wie auch in “weltlicher” Hinsicht zu leiten und jedwede Aufsicht über sie auszuüben. In der Praxis sah dies für Olpe so aus, daß die “geistlichen” Dinge dem Pfarrer vorbehalten blieben und das Presbyterium insgesamt sich fast ausschließlich mit Bau-, Finanz-, Kirchensteuer- und Personalangelegenheiten der Gemeinde befaßte.

     Da wir es in Olpe mit einer ohne frömmigkeitsspezifische und durch lange Traditionen geprägten Gemeinde zu tun haben und sich in der Zusammensetzung des Presbyteriums auch die Fluktuationsproblematik widerspiegelte, wird man davon auszugehen haben, daß sich Konfrontationen zwischen Presbyterium und Pfarrer kaum ergeben haben dürften. Zumindest schweigen die Quellen davon.

     Hinsichtlich seiner soziologischen Zusammensetzung waren im Presbyterium Oberschicht und obere Mittelschicht prozentual stärker vertreten als in der Gesamtgemeinde, und bezüglich der Berufsvarietäten dominierten erwartungsgemäß die Angehörigen des öffentlichen Dienstes im Kirchenvorstand.

     Das alltägliche Leben der Kirchengemeinde fand seit seinem Beginn in unterschiedlichen Gruppen und Kreisen statt, von denen als älteste der Kirchenchor (gegründet 1846) und der Frauenverein (gegründet 1853) zu nennen sind. Gerade der letztere wird als die wichtigste gemeindetragende und -bestimmende Gruppe anzusehen sein, die viele, vor allem diakonische Aktivitäten der Gemeinde übernommen hat. Beide Kreise bestehen mit kurzen Unterbrechungen bis in die Gegenwart fort, während andere Gruppen nur von begrenzter Lebensdauer waren. Die Vereine der Gemeinde hatten noch stärker unter denjenigen Problemen zu leiden, von denen auch die Gesamtgemeinde betroffen war, nämlich sehr geringe Mitgliederzahl und hohe Fluktuation.

 

     In finanzieller Hinsicht vermochte sich die Gemeinde aus eigenen Kräften nicht zu unterhalten. Zu gering war ihr Steueraufkommen. Die Gemeinde blieb bis zum Ende des Ersten Weltkrieges auf namhafte Hilfen, Zuschüsse und Kollektengelder kirchlicher Institutionen und Organisationen angewiesen. Allein der Gustav-Adolf-Verein, ein Hilfsverein für Diasporagemeinden, wandte der Olper Gemeinde von 1845 bis 1919 etwa 81.000 Mark zu, und der Evangelische Oberkirchenrat in Berlin förderte die Gemeinde von 1854 bis 1919 mit ca. 15.500 Mark. Mit diesen Geldern wurden vor allem der Erwerb von Liegenschaften und der Bau und Umbau von Gebäuden finanziert. 1847 kaufte die Gemeinde über Kreutz als Mittelsmann für 3000 Taler ihr Pfarrhaus (Frankfurter Straße 30) und richtete im Obergeschoß den Betsaal ein, der etwa 80 Besuchern Raum bot. 1887 konnte die Gemeinde das neben dem Pfarrhaus befindliche Zeppenfeldsche Anwesen für 12.450 Mark erwerben und in dessen Garten im Jahre 1897/98 für ca. 31.000 Mark ihre im historistischen Stil gehaltene Kirche erbauen. Seither stellt dieser rote Backsteinbau am östlichen Ende der Stadtmauer einen markanten Kontrapunkt zu der am westlichen Ende gelegenen katholischen St.-Martinus-Kirche dar und prägt die Stadtsilhouette.5

 

     Der Abriß einer Gemeindegeschichte bliebe unvollständig, würde nicht auf ein Kontinuum hingewiesen, das die Gemeinde über 100 Jahre geprägt hat. Die Rede ist von ihrem Verhaftetsein im Nationalprotestantismus, also ihrer Affinität zum preußischen Staat und seinem König, später zu Kaiser und Reich, ihr Verständnis des Souveräns als des summus episcopus, ihre Beheimatung im landesherrlichen Kirchenregiment und der Idee einer protestantisch-christlichen Volkskirche. Diese Mischung von “Bethlehem und Potsdam” (Friedrich Naumann) mutet dem heutigen Menschen sehr fremd an und ist theologisch in vielfacher Hinsicht außerordentlich problematisch, hat andererseits aber auch dazu geführt, daß sich die preußisch-protestantische Obrigkeit denjenigen Evangelischen verpflichtet wußte, die ihrer Fürsorge und Hilfe bedurften. Ohne diese Protektion hätte es auf viele Jahrzehnte keine Diasporagemeinden - und damit auch keine in Olpe - geben können. So ist es verständlich, daß die Olper Gemeinde - und dies auch auf dem Hintergrund, daß viele ihrer Mitglieder im Dienst des Staates standen - der Obrigkeit gegenüber außerordentlich loyal war, das herrschende politische System als nicht nur gottgegeben, sondern auch als von Gott verordnet betrachtete und es, denkt man nur an das Gottesgnadentum, sogar divinisierte. Diese, im gesamten preußischen Protestantismus bis über den Ersten Weltkrieg hinaus anzutreffende Einstellung kann nicht trefflicher charakterisiert werden als mit den Worten Damköhlers in seiner Predigt zum Geburtstag des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. im Jahre 1853:

      “Preußen ist ein christlich evangelisches Land und seine Könige sind Schutzherren der evangelischen Kirche. Sie haben sich nicht dazu gemacht und aufgeworfen, sondern das ist der von Gott ihnen zugewiesene Beruf. Würde die Zeit kommen, daß unsere Könige dieses ihres Berufes vergäßen, so würde der Preußenname bald aus der Geschichte verschwinden.”

     Sämtliche Pfarrer haben, mit gewissen Modifikationen und unterschiedlichen Betonungen, einen solchen “Pastorennationalismus” vertreten und ihn auf vielfältige Weise der Gemeinde vermittelt. Verkündigung und Gemeindeleben waren eingebunden in vaterländische Bezüge, und diese haben ein übriges dazu beigtragen, den Olper Protestanten über viele Jahrzehnte hinweg ein Leben sowohl in kognitiver als auch in affektiver Hinsicht in religiösen und nationalen Sinnzusammenhängen zu ermöglichen und sie darin zu bestärken.

 

 

Das Verhältnis zwischen den Konfessionen6

 

     Eine kurzgefaßte Geschichte der evangelischen Kirchengemeinde kann nicht darauf verzichten, auch das Verhältnis zwischen den Konfessionen zu beleuchten. Die Olper Katholiken lebten seit Menschengedenken in einer religiös und sozial homogenen Welt, und sie mußten daher das Auftreten einer andersgearteten christlichen Minderheit - insbesondere dann, wenn diese sich als Kirchengemeinde definierte und in Verbindung zur relativ ungeliebten preußischen Obrigkeit gesehen wurde - mit Berührungsängsten beantworten, es als Verunsicherung verstehen und mit Unverständnis, Argwohn und Mißtrauen betrachten. So geriet unversehens die protestantische Konfessionszugehörigkeit zum dominierenden Unterscheidungsmerkmal zwischen den seit Generationen ortsansässigen Olpern und den von ihnen durch Herkunft, Mentalität, Schichtenspezifik und Konfession unterschiedenen Zugezogenen. Dazu kam, daß die neugegründete Gemeinde nun ihrerseits vom Staat garantierte Rechte wahrnehmen wollte und von daher in eine kaum vermeidbare Konfrontation zur katholischen Bevölkerung und zur katholischen Kirchengemeinde geriet. Die Evangelischen fühlten sich allenthalben diskriminiert und bedroht und entfalteten schon aus Gründen der Selbstbehauptung eine Art “Wagenburg-Mentalität”. Untersucht man das gegenseitige Verhältnis von Protestanten und Katholiken zueinander etwas näher, so empfiehlt sich eine gewisse Differenzierung.

     Zur Kreisverwaltung mit dem Landrat an deren Spitze gestalteten sich die Beziehungen der Pfarrer und der Gemeinde weitgehend konfliktfrei, zumal der Landrat, was das sogenannte ius circa sacra (die äußere, dem Staat obliegende Kirchenhoheit) anlangte, staatliches Recht zu exekutieren hatte.

     Zur Stadt Olpe hingegen waren diese bis über die Jahrhundertwende hinweg außerordentlich problematisch. Aufgrund ihres Selbstverwaltungsrechts verfügte die Stadt in ihrer Kommunalpolitik über einen gewissen Gestaltungsspielraum, den sie nach Kräften dazu nutzte, evangelischen Belangen nicht zu entsprechen und beispielsweise Kauf- oder Baugesuche der Kirchengemeinde dilatorisch zu behandeln oder sie abzulehnen. Dazu muß man wissen, daß zwischen Stadtregiment und katholischer St.-Martinus-Gemeinde eine faktische Identität bestand und Bürgermeister und Stadtverordnete selbstredend katholisch und mit ihrer Gemeinde vielfältig verflochten waren.

     Das Verhältnis der Geistlichen untereinander gestaltete sich dann weitgehend konfliktfrei, wenn und solange man sich auf einer quasi privaten, bürgerlichen Honoratioren-Ebene bewegte. Wurden indes Belange der Amtskirchen tangiert, so mußten sich die Pfarrer als deren Vertreter erweisen und waren gehindert, entstehende Probleme vor Ort zu lösen. Gerade den evangelischen Pastoren war es aus Gründen der Selbstachtung und Gleichberechtigung verwehrt, solche Konzessionen zu machen, die als Schwäche oder Kleinmut hätten ausgelegt werden können. Hier wurden sodann die allfälligen Entscheidungen auf höherer Staats- und Kirchenebene herbeigeführt, so beispielsweise die Durchsetzung des Rechts, auf den Grabstätten von den auf dem katholischen Friedhof bestatteten Evangelischen Grabkreuze errichten zu dürfen.

     Gerade in den ersten Jahrzehnten des Bestehens der evangelischen Gemeinde konnte sich die katholische Bevölkerung nur sehr schwer mit der Tatsache abfinden, daß es in den Mauern ihrer Stadt und außerhalb ihrer Kirche noch eine andere gab, die sich durch ihre Existenz und ihr Auftreten öffentlich bemerkbar machte. So kam es bei der Einführung und Ordination von Pfarrer Manskopf, als sich nämlich der Festzug vom Hause Lyncker (Westfälische Straße 43) zum Betsaal und später wieder zum Hause Lyncker zurück bewegte, zu außerordentlich unliebsamen Vorkommnissen. Dabei, so Superintendent Bender, “bewies ein Theil der Olper Gassenjugend eine Theilnahme an der Feierlichkeit, welche ihr nicht zur Ehre gereichte u(nd) die man zuvor entfernt gesehen hätte.” Und auch die ersten vom protestantischen Pfarrer auf dem katholischen Friedhof vorgenommenen Beerdigungen Evangelischer waren von Tumulten, Störungen und einem skandalösen Verhalten vieler Schaulustiger begleitet. Der sehr friedlich eingestellte Pastor Manskopf äußerte sich rückblickend 1851 über seine ersten Jahre in Olpe:

     “Die Stimmung der katholischen Bewohnerschaft war anfänglich von Seiten der Mehrzahl eine feindselige und gehässige. Man wunderte sich höchlich, als man bei meiner ersten Beerdigung zu hören bekam, daß die Lutherischen doch an Christum glaubten.”

     Im Laufe der Zeit gewöhnte man sich auch in der Stadt Olpe an die Existenz einer evangelischen Gemeinde. Die offensichtlichen Störungen und Belästigungen nahmen ab und schliefen fast völlig ein. Vor allem der Erwerb eines eigenen evangelischen Friedhofs (Bergstraße) 1873 trug wesentlich zum konfessionellen Frieden bei und half, Konfliktpotential zu beseitigen. Und, so seltsam dies auch klingen mag, die Einbeziehung der Kirchen in übergeordnete vaterländische Belange, so in die Kriege 1864, 1866, 1870/71 und 1914/18, führte vor Ort in Olpe zu einer behutsamen Annäherung der Konfessionen. Dennoch sollte es noch Jahrzehnte dauern, bis aus einem ursprünglichen Gegeneinander und einem zögerlichen Nebeneinander späterhin ein vorsichtiges Miteinander wurde.

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